Dienstag, Oktober 02, 2018

Zirkus Roberto

Ich war ein hagerer junger Mann. Also "junger" junger Mann, im Alter von ungefähr neun oder zehn Jahren. Ich bin es irgendwo auch heute mit 37 noch, aber damals erst recht. Einen Bauch konnte ich nicht einziehen, da ich keinen hatte und die Radlhose flatterte mir am Oberschenkel wie ein Mini-Rock an einer Frau. Wenn ich etwas nicht war, dann einer mit dem man sich besser nicht anlegt.
Glücklicherweise gab es jemanden unter meinen Freunden, der genau das von sich behaupten konnte: Bruce Bolz. Gut beinander, schulterlanges schwarzes Haar, schon mal eine blutige Nase; kurzerhand ein Kraftpaket. Mit ihm an meiner Seite, und an dieser war er aufgrund seines Nachbardaseins häufig, gab es nie einen Grund sich vor irgendetwas zu fürchten.
Wenn es überhaupt einmal Ärger gab, dann bekam sowieso er ihn ab. Wenn jemand auf die Fresse flog, weil er den Plastikball vom Garagendach holen wollte oder beim örtlichen Metzger einen gewaschenen Anschiss bekam, weil deren Keller beinahe in Brand gesteckt wurde dann war er das. Bei Unangenehmem im Hintergrund, beim Coolsein stolzer Trittbrettfahrer. Das ging lange gut, bis eines Tages in den frühen 90ern der "Zirkus Roberto" am Schwimmbadparkplatz in Siegsdorf Halt machte.
Da innerorts der ein oder andere Aushang angebracht war und wir uns ohnehin ständig im oder rund um das Schwimmbad aufhielten dauerte es nicht lange, bis wir das bunte Zelt und die ganzen Wägen und Ställe drumherum bemerkten. Neugierig wie wir waren schleichten wir uns möglichst nahe an das Spektakel heran. Sagen muss man schon, dass es sich beim "Zirkus Roberto" zweifellos um einen kleineren solchen handelte. Dies war sogar meinem Kinderauge bewusst, das ansonsten ganz wunderbar in der Lage war, meinem Kinderhirn zu sagen, dass es sich bei sehr gewöhnlichen Dingen um außerordentlich tolle Ereignisse, Häuser, Filme, Schwimmbecken usw. handeln müsse.
Zu den vermutlich nicht besonders zahlreichen Artisten, Dompteuren, Feuerschluckern und dergleichen mehr zählten auch eine kleine Schar von Kindern, mehrheitlich etwa in unserem Alter mit denen wir uns nach zarter Annäherung schließlich kurzerhand anfreundeten. Darunter waren ein Mädchen mit langen Haaren, ein wenn ich mich nicht täusche etwas kleinerer Junge und ein kräftiger schwarzhaariger Bub, den ich von der körperlichen Statur her etwa in Bruces Maße einkategorisieren würde. Darüber hinaus gab es noch einen weiteren Jungen, der aber immer etwas Abseits stand und irgendwie seltsam wirkte.
Am zweiten oder dritten Tag nach dem Kennenlernen fuhren Bruce und ich erneut an einem Vormittag (vermutlich waren ab Nachmittag die Vorstellungen) die wenigen 100 Meter von uns zuhause zum Schwimmbad um mit den Kindern zu spielen. Unglücklicherweise konnten wir keines der Kinder von der Ferne ausfindig machen und warteten mit etwas Abstand, ob sich denn eines irgendwann zeigen möge. Den einzigen aber, den wir sahen war der etwas seltsame ältere Junge und plötzlich wurde mir auch schlagartig klar, warum ich ihn für seltsam hielt: Ich hatte soeben die erste bewusste Begegnung mit einem Behinderten. Der Junge hatte offensichtlich mindestens einen lahmen Fuß und bewegte sich dementsprechend ungelenk. Darüber hinaus hatte er einen Schokoriegel (in meiner verqueren Erinnerung ein Mars-Riegel, auch wenn es rein gar nichts zur Sache tut) in einer Hand, an dem er sich gütlich tat. Das Schlimme daran war, dass er dabei, man kann es sich denken, keine allzu graziöse Figur abgab. Vielmehr entlockte der Anblick Bruce nicht nur ein herzhaftes Lachen sondern veranlasste ihn zu allem Überfluss auch noch, die, nun ja, ziemlich krampfartigen Bewegungen seines den Schokoriegel kauenden Gesichtes des Jungen zu imitieren. Auch ich fand es, und allen voran Bruces Witzchen dazu, ausgesprochen komisch.
Was wir buchstäblich allerdings nicht im Auge hatten war, dass sich zwischenzeitlich die anderen Kinder aus ihren Unterkünften begaben und gesehen hatten, wie wir beide uns auf Kosten des armen Jungen (vermutlich auch Bruder, Cousin und was sonst noch alles) aufs Köstlichste amüsierten.
An dieser Stelle muss ich einen kurzen Cut machen, denn es gibt im Folgenden zwei Versionen, wie diese Geschichte endet, die tatsächliche, sowie die filmische, ich beginne mit letzterer:

Version 1:
Wir wussten gar nicht wie uns geschah. Eh wir uns versahen stürmte die Kinderschar mit Schaum um den Mund auf uns zu. Mein Schreck war umso größer als ich zum allerersten mal so etwas wie Panik im Gesicht von Bruce wahrnahm. Glücklicherweise hatten wir unsere Fahrräder unweit unseres Obervationsortes geparkt. Sogleich schwangen wir uns auf die Drahtesel und ergriffen schleunigst die Flucht vor dem drohenden Ungemach. Der komische Junge spuckte (den halb zerkauten Riegel) aus und die wilde Verfolgungsjagd begann. Eiligen Trittes überquerten wir die erste Traunbrücke zum Schwimmbad hin, da surrte auch schon das erste Messer an uns vorbei und blieb zitternd in der hölzernen Mauer des Schwimmbads stecken. Für uns Grund genug, noch stärker in die Pedale zu treten um weiter das Heil in der Flucht zu suchen. Wir konnten von Glück reden, dass die Akrobaten-Kinder auf ihren Einrädern unser Tempo nicht ganz mitzugehen in der Lage waren. Dennoch konnten wir sie nicht vollends abschütteln. Der kleine Junge jonglierte währenddessen behände eine handvoll Wurfmesser, übergab diese geschickt werfend dem langhaarigen Mädchen und dem Muskelprotz und Augenblicke später pfiffen uns diese wieder um die Ohren. Ob es Glück oder geschicktes Ausweichen war, dass diese uns stets verfehlten vermag ich nicht mehr zu sagen. In Todesangst erreichten wir die Kuppe und konnten geradeso noch das Bahngleis überqueren eher der Traunsteiner Zug wütend pfeiffend uns Gott sei's gedankt von dem mordlustigen Trio trennte und wir um eine abenteuerliche Erfahrung reicher vom Zirkus Roberto samt seiner eigenartiger Kinder verabschiedeten und uns darin einig waren, für nächste Zeit harmloseren Beschäftigungen nachzugehen, beispielsweise dem Ärgern der Seissiger-Kinder. Den Ärger hatte später sowieso der Bruce.

Version 2:
Denkt man sich die ein oder andere Übertreibung an gegebener Stelle weg ist die Realität gar nicht so  schrecklich weit von der "Version 1" entfernt. Selbstversändlich verfolgten uns die Kinder weder auf Einrädern, noch standen wir Gefahr, von fliegenden Wurfgeschossen durchsiebt zu werden und zu guter Letzt stand auch der Lokführer der Bahnstrecke Traunstein - Ruhpolding nicht kurz vor einem Herzinfarkt denn tatsächlich ließen die Kinder freiwillig von der weiteren Verfolgung ab, als wir das Bahngleis auf der kleinen Anhöhe überquerten. Verfolgt wurden wir tatsächlich, allerdings auf normalen Fahrrädern und der größte Schreckmoment war als der kleine Schwarzenegger uns kurz vor dem Ende der Verfolgungsjagd einholte und gegen meine Speichen trat. In meiner Erinnerung löste sich daraufhin ein Reflektorlicht am Hinterrad. Ob das aber wirklich stimmte weiß ich nicht mehr.

Wahr ist allerdings schon, dass ich Bruce zuvor und auch später nicht mehr so angsterfüllt erlebt hatte. Vielleicht war unsere schnelle Flucht tatsächlich die beste Entscheidung unseres damals noch jungen Lebens.