Montag, März 25, 2024

Der Trip

Über meine Erlebnisse rund um die Corona-Jahre habe ich zuletzt bereits einen ausführlichen Bericht geliefert. Ausgespart habe ich dabei eine Geschichte, die sich im Mai 2020 zugetragen hat, also in der Zeit der ersten Lockerungen. Bevor ich allerdings zu den eigentlichen Vorkommnissen an diesem Samstagabend komme, ist es nötig, einen kleinen Abschnitt einzuschieben.

Marihuana, Weed, Joint, einen Durchziehen. Das sind, unter vielen Anderen, Begriffe aus einem Bereich, der im Leben nicht weniger Menschen eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Ich habe im Laufe meines Lebens gelegentlich Kontakte mit Leuten gehabt, die dieser Droge, deren Beschaffung sich noch immer leicht außerhalb des gesetzlichen Rahmens bewegt, zugetan waren und sind. Und dabei kam es auch gelegentlich, allerdings wirklich ausgesprochen selten, vor, dass ich mich an vereinzelten Abenden inmitten solcher "Kiffer-Runden" befand und daran teilnahm. Die Anzahl solcherlei Erfahrungen kann ich aber eher an drei Fingern, als an einer Hand abzählen. Trotzdem kam ich dort zu einer Erkenntnis, die mich sprichwörtlich ernüchtert zurückließ. Während um mich herum der zu erwartende Effekt nicht zu übersehen war, konnte ich an mir keinerlei Wirkung erkennen. Selbst der zeitgleich konsumierte Alkohol in, wenn nicht rauen, zumindest beachtlichen, Mengen konnte mich nicht in einen Zustand wohliger Chillness, oder was auch immer man sich vom Kiffen versprach, versetzen. Meine abendlichen Kollegen verspotteten mich in einer Mischung aus Ungläubigkeit, Verwunderung und Neid schon, dass ich wohl immun sei. Gut für mich. Egal? Egal! Ich hielt es fortan, wie schon zuvor, mit dem Alkohol.

Machen wir nun den Sprung in den Mai 2020. Corona war bereits etliche Wochen in aller Munde. Und doch wurde erstmalig gelockert, auf jeden Fall insofern, dass private Zusammenkünfte keine Ordnungswidrigkeit mehr darstellten. Was lag da näher, als dies auszunutzen? Werners damalige noch nicht Frau sondern Freundin war an diesem Samstag ausgeflogen, also lud Werner Benno, mich und Ulf zu sich nachhause ein. Es sollte eine gemütliche Zusammenkunft sein. Ein paar Bierchen auf der Dachterrasse, abends dann würden wir uns Burger bestellen, denn Abhol-Services bei Restaurants waren nun auch wieder erlaubt. Es gab aber noch eine Besonderheit, die dem Tag den letzten "Schliff" verpassen sollte. Zuvor letztgenannter Ulf brächte noch eine Lage "Brownies" mit, denn wenn schon denn schon und so weiter. Ich selbst, der wie oben beschrieben so gut wie keine Erfahrungen mit diesem Zeug hatte, von Brownies ganz zu schweigen, sagte mit einer Mischung aus Neugier, aber auch der Gewissheit zu, dass mir das alles sowieso nichts anhaben würde. Denn wie ich bereits wusste, war ich ja immun!

Am späten Nachmittag fanden wir uns also ein, zu viert hockten wir auf der Dachterrasse, ein, zwei Pils waren getrunken, als Ulf von Werner angehalten wurde, dass es nun ja mal so weit sei. Gesagt getan schlüpfte Ulf in die Küche und erschien wenige Augenblicke später wieder mit einem kleinen Tablett Brownies. Ich konnte es ehrlicherweise kaum mehr erwarten, waren die Wochen zuvor doch von ausgesprochener Untätigkeit und Langeweile geprägt, zumindest im privaten Bereich. Mit ein paar Happen waren die Brownies von uns dreien verzehrt. Lustig, haha. Die Minuten verstrichen. Ich verstieg mich bereits wieder in meinen Immunitäts-Gedanken und war ehrlich davon überzeugt, später noch heimzufahren. Schallendes Gelächter allenthalben als Reaktion. Langsam merkte man, dass die Lacher häufiger wurden. Werner und Ulf scherzten und lachten, auch Benno. Ich hingegen fühlte mal wieder gar nichts, stattdessen halt dann noch ein Pils, wenn's schon da stand. Nach einer guten dreiviertel Stunde fragte ich, ob wir denn vielleicht die nächsten Brownies essen sollten. Ulf brachte noch einmal vier Stück, sprach ja nichts dagegen. Ich beneidete die anderen.  Aber vielleicht würde ich ja nun mal endlich etwas spüren. Nach den zweiten Brownies vergingen noch einmal ca. 10 Minuten als ich plötzlich bemerkte, dass mein Blick etwas nebliger wurde. Werner und Ulf lachten weiterhin lautstark  über so ziemlich alles, während Benno sich tiefer in die Couch lehnte und sich mit notorisch starrem Blick hinter seiner Sonnenbrille verschanzte.

Ich hob nun meinen Blick und bemerkte im gegenüberliegenden Gebäude das Witzigste, was ich je im Leben gesehen habe. Ein Mann etwa unseren Alters war auf seinen Balkon getreten und hatte vor, seinen dort befindlichen Kohlegrill anzuzünden. Zu diesem Zweck hob er seinen Papiersack mit Kohlen und Schlaufengriffen an, dabei sahen die Schlaufen für einen Moment aus, als wären sie die Träger einer Schürze um seinen Hals. Ich konnte nicht mehr. Aufgeregt deutete ich auf den Mann, den sich die anderen doch unbedingt auch ansehen sollten. Meine Augen tränten vor Lachen. Benno startete mich nur emotionslos an, während die anderen beiden schon am Verständnis meiner Erklärung scheiterten, was daran denn bitte so komisch sei. Egal. Offenbar hatte nun endlich die gewünschte Wirkung auch bei mir eingesetzt. Es war ein Traum. Euphorisiert bat ich Ulf darum, doch die vier nächsten (und letzten) Brownies zu holen. Ich wollte mehr davon. Ulf ermahnte mich hingegen, dass es wohl an der Zeit wäre, Maß zu halten, es sei ja auch so schon lustig genug für den Moment. Dem konnte ich nur beipflichten.

Sehr zum Missfallen des ulkigen Kohle-Nachbarns sah es nun so aus, also würde bald ein Gewitter heranziehen, was Werner dazu veranlasste, den Aufenthalt auf der Dachterrasse für beendet zu erklären, zumal unser Verhalten in dieser exponierten Lage ja auch langsam aber sicher etwas auffällig wäre. So gingen wir also nach drinnen. Werner bemerkte beim Reingehen, dass seine Beine mittlerweile etwas wackelig waren, weshalb er unverzüglich sein Bett aufsuchte um sich dort hineinplumpsen zu lassen. Mir erging es nicht viel anderes, konnte mich aber noch auf die Couch begeben, auf der zu meiner linken sich bereits Benno platziert hatte. Die L-Form der Couch mit seinen Beinen ausnutzend, war er nun dort halb sitzend halb liegend und sah mit seinen blonden Haaren und seiner Sonnenbrille wie ein Abziehbild von Heino aus. Ich saß in der Mitte des Sofas und konnte mit meinen Beinen nicht recht etwas anfangen. Runterbaumeln lassen fühlte sich so falsch an, ebenso ein möglicher Schneidersitz. Einzig Ulf verhielt sich völlig normal, saß nun am Esstisch und fragte mit einer Mischung aus Besorgnis und Belustigung, ob jeder in Ordnung sei. Werner brabbelte aus der Ferne irgendetwas aus seinen Schlafzimmer, gefolgt von weiterem Gelächter, ich bemerkte, dass mir glaub ich schlecht und die Couch so ungemütlich sei, während Benno zu Protokoll gab, wir sollten doch endlich mal die Schnauze halten und den Moment genießen.

Ich selbst fühlte mich nun von Moment zu Moment flauer im Magen, und stolperte mehr schlecht als recht ins Badezimmer, wo ich nicht anders konnte als erst einmal zu kacken. Puh, du liebe Zeit, was war jetzt denn plötzlich los. Das ist ja richtig übel, wird wohl doch nix mehr mit heimfahren heute. Ich schlich mit gebeugter Haltung wieder aus dem Badezimmer und sah schnell ein, dass der Weg ins andere Ende des Zimmers zur Couch aufgrund fehlender Körperkraft ein zu weiter sein würde, also setzte ich mich auf den Boden, den Rücken zur Wand und krallte mich mit den Zehen am gegenüberliegenden Treppengeländer ein. Was für ein Rausch. Ulf bemerkte nun, dass wohl ich es sei, der von den Anwesenden derjenige war mit der mit Abstand größten Hilfsbedürftigkeit. Rechts hinter mir fand Werner wieder irgendetwas wahnsinnig witzig, Benno war möglicherweise eingeschlafen und Ulf servierte mir fürsorglich ein Glas Wasser. Ich nahm einen Schluck und augenblicklich drehte sich mir der Magen um. Ein Glück, dass sich die Toilette nur wenige Meter von mir entfernt befand, so konnte ich also gerade noch hineinstürmen, mich über die Schüssel beugen und buchstäblich dreistrahlig eine Fontäne in die Keramik abgeben. Heilige Mutter Gottes!

Ich weiß bis heute nicht wie ich es geschafft habe und doch brachte ich es irgendwie fertig, die Spuren dieser Verwüstung, die sich glücklicherweise ausschließlich innerhalb der Kloschüssel befand, so vollständig zu beseitigen, dass laut eigener Aussage selbst Werners Freundin später nichts davon bemerkt haben wollte. Mit wirklich allerletzter Kraft krabbelte ich auf allen Vieren wieder aus dem Badezimmer und spreizte meinen völlig entkräfteten Körper wieder zwischen Wand und Geländer. Der Kotzgeschmack, der sich nun in allen meinen Gesichtsöffnungen breit gemacht hatte war trocken, unheimlich widerlich und steckte fest. Ich griff nach dem Wasser, das noch immer im Glas neben mir war und konnte trotzdem kaum einen Schluck hinunter bekommen. Ich wimmerte buchstäblich. Von Werner hinter mir war außer gelegentlich kurzem unsinnigen Satzverstücken auch kaum mehr etwas zu hören. Ulf hingegen kam nun wieder her, klopfte mir auf die Schulter und fragte, ob schon alles okay sei. War es nicht, ganz und gar nicht. Ich hatte das Gefühl, dass ich bald das Bewusstsein verlieren würde. Deshalb bat ich Ulf, dass er doch bitte, falls ich tatsächlich nicht mehr ansprechbar sein würde, den Notarzt rufen solle. In meinem Kopf malte ich mir aus, ob sich so wohl der Tod mit einer Überdosis anfühlen würde. Angst keimte in mir auf. Benno schien plötzlich wieder erwachte zu sein und ermahnte mich und uns alle, sich doch verflucht nochmal nicht so anzustellen, das würde jetzt halt ein bisschen dauern. Ulf überkamen nun Schuldgefühle, ob er es beim Backen mit der Dosierung nicht womöglich etwas zu gut gemeint hatte.

Mit wurde bewusst, dass ich mich meinem Schicksal nun zu ergeben hatte, bat um ein Kissen und legte mich auf den Boden. Ich schloss die Augen und war nun gefangen in einer Welt aus Mosaiken, unbeschreiblichen Schwindelgefühlen und Rotationen. Das, wofür die Junkies wohl das Wort "Trip" für sich beanspruchen. Es war grauenhaft. Ich hatte kein Gefühl mehr dafür ob ich wachte oder schlief. Gelegentlich nahm ich wahr, dass Ulf herkam, etwas sagte und wohl nach der Feststellung, dass ich noch bei Bewusstsein war, wieder von dannen zog.

Ich kann nicht mehr sagen ob eine Stunde verging oder deren zwei. Auf jeden Fall erwachte ich aus meinem Fiebertraum und plötzlich fühlte sich die Welt wieder ein Stück weit geerdeter an. Das Wasser war nun wieder trinkbar und nach einem zaghaften Versuch konnte ich nun aufstehen. Unbeholfen schlurfte ich wieder auf das Sofa zurück, auf dem sich noch immer Benno befand und vor sich hin stummte. Irgendwer schaltete nun den TV an und auch Werner kam plötzlich aus dem Schlafzimmer und setzte sich zu uns. Ulf merkte man an, dass er erleichtert war, dass das Schlimmste nun hinter uns zu sein schien.

Der Plan, sich Burger zu bestellen war mittlerweile beerdigt worden. Erste Scherze wurden gemacht, dass an diesem Tag "Gabersee-Werner" und "Notarzt-Moa" geboren worden waren. Es war mittlerweile wohl so 22 Uhr. Es dauerte noch eine Weile, dann kam Ulfs Freundin, die uns dankenswerterweise abholte und uns alle heimbrachte.

Tags darauf waren Werner und ich uns einig, dass wir es mit dem "nie wieder" im Gegensatz zur oft besungenen Alkohol-Kater-Askese hier mehr als nur ernst meinten. Ulfs Brownies blieben fortan im kollektiven Gedächtnis und werden nicht selten als Scherz hervor gekramt, wenn es an einem Abend mal wieder etwas ausufernder wird.

Und so wie er gekommen war ging er dahin, der Abend, der Trip und erst recht das Märchen meiner Immunität.