Dienstag, Oktober 08, 2019

Das Finale

Jeder kennt sie. Diese schlimmen Tage, die einem ewig im Gedächtnis bleiben. Tage, an denen sich das Unglück von Monaten oder gar Jahren geballt zu sammeln scheint und einen nachgerade niederstreckt, so dass man, sofern man denn möchte, noch nachfolgenden Generationen davon erzählen kann. Oft sind dies natürlich ganz persönliche Unglücke, manch ein solches kann ein anderer womöglich gar nicht nachvollziehen und glücklicherweise tauchen solche Tage in den Leben der meisten Menschen nicht sehr häufig auf. Ich möchte heute von einem dieser Tage in meinem Leben erzählen. Dabei war es noch dazu eine Sache von wenigen Minuten und der Tag hätte mich damals beinahe unendlich glücklich gemacht, stattdessen wähnte ich mich nur kurze Zeit später am Rande des schlimmstvorstellbaren Abgrunds. Doch der Reihe nach...
Wir schreiben den 26. Mai des Jahres 1999 und bevor jemand auf die Idee kommt zu googlen, ja es ist der Tag des legendären Champions-League - Finales zwischen Manchester United und dem FC Bayern München in Barcelona. Möglicherweise rümpft der ein oder andere nun schon verächtlich die Nase, doch es kommt anders als viele nun zu denken glauben, garantiert!
Das Jahr 1999 war in meinem Leben etwas ganz Besonderes. Im Februar wurde ich 18 Jahre alt, kurz danach machte ich meinen Führerschein, die Anzahl meiner Freunde innerhalb unserer Siegsdorfer Clique war, auch dank des noch recht neuen Jugendtreffs, nahezu unüberschaubar und der Beginn des neuen Milleniums (ja, es begann eigentlich erst 2001, ich weiß...) warf in Form der lauter werdenden "Y2K - Panik" bereits seine Schatten voraus. Es war für mich die intensivste Zeit des Heranwachsens, des Herauswachsens aus der Kindheit mit allem Guten und Schlechten was eben dazu gehört. Einer meiner Kumpels aus der bereits erwähnten Clique war Ivan Bernhard (für korrekte Schreibweisen übernehme ich keine Haftung), Vorname Bernhard, von allen aber "Ivan" genannt. Dieser lud an besagtem 26. Mai seine an Fußball interessierten Freunde zu sich nach Hause, in den Siegsdorfer Ortsteil "Paulfischer"(unglaublich, aber so heißen bei uns Orte) ein. An dieser Stelle muss ich sagen, dass jede übertriebene Ausführung der Umstände und Details über Geschehnisse rund um Personen und um das Spiel selbst frei erfunden wären. Was am Ende des Spiels und im Anschluss daran geschah überstrahlte alles, was davor schon oder nicht stattgefunden hat. Wir springen also direkt in Minute 90...

Bayern war früh in der ersten Halbzeit durch einen Freistoßtreffer von Mario Basler 1:0 in Führung gegangen und konnte diesen Vorsprung bis zum Ende der regulären 90 Minuten verteidigen. Ich glaube mich zu erinnern, dass das Spiel insgesamt recht ausgeglichen war und sich beide Mannschaften Chancen auf ein (weiteres) Tor erspielen konnten. Meine Nerven waren entsprechend zum Zerreißen gespannt. Zwei Jahre zuvor konnte der Erzfeind in der Bundesliga, Borussia Dortmund, bereits den europäischen Fußballthron besteigen. Alleine deshalb sehnte ich mich unbeschreiblich danach, dass der FC Bayern es ihnen nun gleichtat. Die Genugtuung wäre so bitter nötig gewesen, da Leute wie der Stärz Patrick, vulgo "Stärzei", keine Gelegenheit ausließen, uns Bayernfans, und insbesondere mich, mit Häme zu übergießen.
Ich musste nur noch den Schlusspfiff abwarten und diese Leidenszeit würde endlich ein Ende haben. Ich, und ich glaube auch noch ein paar andere, hatten mittlerweile vor dem Fernseher kniend eine Gebetshaltung eingenommen. Die 90 Minuten waren gerade vorüber, als Manchester eine Ecke bekam. Eine vermaledeite Ecke mehr oder weniger, dachte ich, was macht das schon? Über Umwege und eine missglückte Rettungsaktion von Thorsten Fink gelangte der Ball schließlich auf den Fuß von Teddy Sheringham und in Oli Kahns Tor.....das durfte doch einfach nicht wahr sein. Wir waren so kurz davor, meine Nerven waren doch eh schon am Ende, wie sollte ich jetzt noch eine Verlängerung überstehen? Wenn zu allem Überfluss dieses Dreckschwein von Stärzei nicht auch noch so saudumm lachen würde. Bis ich mich wieder halbwegs gefasst hatte war bereits die 92. Minute beendet, das Spiel war wieder angepfiffen worden und United hatte sich verflucht nochmal die nächste Ecke herausgeholt. Es war Ole Gunnar Solskjaer, der nach Verlängerung von Sheringham den Fuß hinhielt und den Ball unter die Latte nagelte. Dann wurde es dunkel in meinem Kopf. Das Spiel war verloren, verloren....verloren. Wie konnte das nur passieren? Diese Ungerechtigkeit, diese unbeschreibliche Ungerechtigkeit...
Ich weiß von diesen Minuten nicht mehr viel. Stille unter den zahlreichen Bayern-Fans. Vergrub ich mein Gesicht am Boden unter meinen Händen? Weinte ich? Ich sah auf jeden Fall noch Stärzei, wie er wie ein Derwisch herumtanzte, lachte und mit diebischer Freude mit dem Finger auf mich zeigte.
Es dauerte nicht allzu lange, und meine Enttäuschung und Trauer wandelte sich in eine solch unbändige Wut, dass ich sie kaum mehr in Zaum halten konnte. So kam es mir gerade recht, dass ich draußen im Garten beim Schiffen Stärzeis beschissenes "Diskus" - Fahrrad vor mir hatte und ich mit einer gewissen Genugtuung mit meinen Strahl auf seinen Sattel zielte. Aber so als wäre mir an diesem verhexten Tag nicht einmal diese Kleinigkeit vergönnt, stand natürlich ausgerechnet jetzt Ivans Oma (um diese Uhrzeit?!?) in Sichtweite und tadelte mich lauthals, was ich denn nicht für ein "Saubär" sei.
Auf jeden Fall wusste ich eins genau. Ich wollte hier weg und so schnell es geht nach Hause. Nach einem kurzen wortlosen Handgruß in die Runde suchte ich mir mein Fahrrad und radelte los. Dass exakt zeitgleich auch Stärzei auf diese Idee kam und wir gemeinsam losfuhren nahm ich emotionslos zur Kenntnis, nicht einmal der Moment als sich sein Hintern auf den Sattel setzte konnte ein Mindestmaß an Freude erzeugen (ok, vielleicht ein, zwei Prozent). Die ersten paar Hundert Meter ging es geradewegs bergab in Richtung Wernleiten, dort angekommen bogen wir wortlos nach links ab um über den GM (Großmarkt, heute Edeka) - Parkplatz noch ein paar Meter abzukürzen. Und jetzt ging es erst richtig los...

Es ging alles recht schnell, doch beim Vorbeifahren am Eingangstor vom GM sahen wir, dass unmittelbar davor ein roter PKW mit Stufenheck geparkt hatte und sich zwei Männer am Tor zu schaffen machten. Wir fuhren mit unserer normalen, relativ hohen Geschwindigkeit vorbei, sahen uns kurz an und hatten wenige Augenblicke später den Parkplatz schon wieder passiert. An dessen Ende befand sich eine große Werbewand. Wenn überhaupt benötigte es nur weniger Worte bevor wir uns einig wurden, uns hinter dieser zu verstecken, um aus sicherer Entfernung das Treiben dieser beiden offensichtlichen Diebe, Einbrecher, in jedem Falle Kriminellen zu beobachten. Geschätzt lagen, bei nächtlicher Dunkelheit, ca. 100 Meter zwischen uns und ihnen. Doch ehe wir überhaupt großartig etwas erkennen konnten begann der Spaß schon. Die beiden Männer stürzten vom Eingangstor weg in ihr rotes Auto, das Licht ging an, blendete bereits in unsere Richtung und sie fuhren los.
Nun hieß es zu handeln! Wir schwangen und so schnell es ging auf unsere Fahrräder und traten in die Pedale. Nach wenigen Metern gabelte sich der Weg und wir standen vor der Wahl: Runter Richtung Schwimmbad oder hoch und geradewegs über den Kindergarten ins Dorf? Aus späterer Sicht wäre nach jederlei menschlichem Ermessen der Weg in Richtung Schwimmbad der klügere Weg für eine Flucht gewesen, schon alleine, weil uns innerhalb kürzester Zeit kein Auto mehr hätte folgen können und anschließend die möglichen Fluchtwege derart zahlreich gewesen wären, dass uns unter Garantie niemand mehr hätte erwischen können. Klug wie ich war, und zu dem Zeitpunkt befand ich mich in der führenden Radposition, entschied ich mich für den Weg ins Dorf. Bevor, so wie ich es mir gedacht habe, wir im Dorf in Sicherheit gewesen wären, galt es, einige nicht ganz zu vernachlässigende Steigungen und die Unterführung der Autobahnbrücke zu überwinden. Spätestens dort, so dachte ich, müsste der Wagen die Verfolgung abbrechen, da es PKWs verboten war, hier entlang zu fahren...Ja, ich war leider ein dummes, naives Kind.
Während des Passierens der etwa 50 Meter langen Unterführung, unsere Verfolger waren in ihrem Auto gerade noch nicht in Sichtweite, geschah etwas, das ich mir bis heute nicht erklären kann. Man muss dazu sagen, dass sich weder Stärzei noch ich innerhalb unseres Freundes- und Bekanntenkreises durch eine besonders herausragende Körperkraft hervorgetan hätten, von einer besonderen Kraft in den Beinen, und hier kann ich natürlich besonders von mir selbst sprechen, ganz zu schweigen. Und wäre das nicht schon schlimm genug, hatten wir beide Fahrräder, die sich vermutlich ziemlich am unteren Ende der Qualitätsspanne wiederfanden. Ich saß auf einem Pegasus - Mountainbike, das so schwer war, dass es sich beim Bergauffahren anfühlte, als sei es aus gehärtetem Stahl gefertigt und über Stärzeis uraltes Drei-Ganz Diskus - Rad gab es vermutlich auch nicht viel Positives zu sagen. Dies änderte aber nichts an der Tatsache, dass Stärzei urplötzlich, vermutlich von purer Angst getrieben, so stark in die Eisen stieg, dass er mich nicht nur überholte, nein er schoss in einem derartigen Affenzahn an mir vorbei und den anschließenden kurzen Berg hoch, dass ich ihn nur wenige Momente später aus den Augen verlor. Vermutlich war erschon kurz vor dem Kindergarten, als ich gerade einmal mit meinen Drahtesel aus der Unterführung kam. Für mich war es indes ohnehin schon zu spät. Während ich noch darüber staunte, wie mein Kumpel plötzlich in Besitz übermenschlicher Kräfte gekommen war, hatten mich die beiden Tunichtgute eingeholt. Ein Blick nach hinten genügte und ich wusste, ich hatte keine Chance mehr zu entkommen. Mein so großartiger Plan war nicht aufgegangen. Der Fahrer des (vermutlich gestohlenen ) Autos hatte das Durchfahrverbot missachtet..
Als ich merkte, dass ich keinen Ausweg mehr hatte und das Auto mittlerweile schon neben mir war, blieb mir nur noch eines. Ich stürzte von meinem Rad, sprang linkerhand in die Böschung, hielt mir die Hände vor Gesicht und Augen und schrie immer wieder, dass ich nichts gesehen hätte. Dies entsprach auch der Wahrheit. Es war dunkel und in dem kurzen Moment als wir am Eingang vorbei fuhren, an dem die beiden werkelten, hatte ich kein Gesicht vernünftig wahrgenommen. Die beiden waren mittlerweile ausgestiegen. Wenn sie es mir doch nur glauben würden, sie könnten einfach weiterfahren, sie müssten mich weder verprügeln, foltern, kidnappen, einsperren, oder am Ende gar...

...fragen wer ich bin? Lasst mich doch in Ruhe, dachte ich, die Augen noch immer in die Hände vergraben und auf dem Boden kauernd. Fahrt doch einfach weiter, bitteeeeheee!!!!
KRIMINALPOLIZEI TRAUNSTEIN...(wie bitte, macht ihr euch auch noch über mich lustig?). Zum ersten mal wagte ich einen scheuen Blick in die Richtung der beiden. "Kriminalpolizei Traunstein" wiederholte einer der beiden seine Aussage. Eine unheimlich Erleichterung umfasste mich mit einem mal und doch war ich noch immer nicht überzeugt. Es passte für mich nicht recht zusammen. Ich hörte mich selber nach einem Dienstausweis fragen, der mir auch augenblicklich vor die Nase gehalten wurde. Offenbar war mein ganzes vorherige Verhalten Grund genug für die beiden anzunehmen, dass ich weder verdächtig noch schuldig bin. Ich klärte mit wenigen Sätzen und Fragen das Geschehen auf. Offenbar wurde die Polizei gerufen, weil irgend jemand gesehen hatte, dass jemand versucht hatte, beim GM einzubrechen. Die beiden Polizisten kamen - im Zivilfahrzeug wohlgemerkt - herbeigerauscht und untersuchten die Szenerie just in dem Moment, als Stärzei und ich mit unseren Fahrrädern ebenfalls vorbei fuhren und diese merkwürdigen Gestalten wie bereits beschrieben bei Ihrem Tun gesehen hatten....und so schloss sich schließlich der Kreis und dieser schreckliche Abend fand endlich sein wohlverdientes Ende...
...doch halt. Ganz so schnell ging es dann doch noch nicht vorbei. Während ich in Anbetracht meiner tiefen Erleichterung noch nonchalant den hilfsbereiten Vorzeige-Bürger mimte, um von meinem doch etwas peinlichen Verhalten von zuvor abzulenken, wurde einer der beiden an den Funk im Auto gerufen. Ich war zwar in der Nähe, konnte aber nicht hören, was durchgegeben wurde, nur dass der Polizist im Auto so etwas wie: "Ok, wir kommen gleich hin", antwortete.
Da meine "Befragung" ohnehin sowohl beendet war als auch keine hilfreichen Erkenntnisse aufbot verabschiedete man sich, die Polizisten stiegen in ihren Wagen, ich auf mein Fahrrad und man fuhr los in Richtung Dorf, genau auf dem Weg den ich bei meinem erfolglosen Fluchtversuch nicht erreichen konnte. Das Auto fuhr voraus, allerdings in einer geringen Geschwindigkeit, so dass ich wenig Mühe hatte, mich ihnen an die Fersen zu heften. Beim Pfarrer-Berg dann fuhren sie einen kleinen Vorsprung heraus, so dass ich die nachfolgende Szene aus einer gewissen - kleiner werdenden - Entfernung beobachten konnte.
Das Auto blieb plötzlich unvermittelt auf Höhe der Telefonzelle bei der Post stehen. Daraufhin öffnete sich die Tür zur Telefonzelle, der Stärzei spurtete heraus und setzte sich augenblicklich in das Auto. Es war kaum zu glauben. Er hatte die Polizei verständigt, ob um Sorge wegen meines Wohlbefindens oder wegen des vermuteten Einbruchs beim GM sei hier dahingestellt, die Person am anderen Ende der Leitung sagte daraufhin, er solle an Ort und Stelle warten, sie schicke gleich einen Wagen vorbei, dem er Bericht erstatten solle. Dieser Wagen kam, jedoch nahm Stärzei in keiner Sekunde wahr, dass es sich dabei um genau jenes Auto handelte, vor dem er wenige Minuten zuvor noch in wilder Panik geflüchtet war. Kurz nachdem er auf der Rückbank Platz genommen hatte, hatte ich sie eingeholt, hielt an, öffnete meinerseits eine der hinteren Türen und gebot Stärzei, er könne aussteigen, da ich wohlauf sei. Vermutlich war es das erste mal seit geraumer Zeit an diesem Abend, an dem mir ein Lächeln über die Lippen kam. Verdutzt stieg er wieder aus, die Polizisten verabschiedeten sich und zogen von dannen, während ich ihm die Verrücktheit dieser ganzen Geschichte noch einmal im Detail erzählte. Wenige Augenblicke später trennten sich unsere Wege, ich konnte endlich heim und diesen Tag im Schlaf verarbeiten. Meinem Freund Stärzei war ich noch immer sauer für sein Verhalten nach dem Spiel und gleichzeitig in tiefem Dank verbunden für die Geste nach unser Flucht vor den vermeintlichen Gaunern.

Epilog:
Elf Jahre später, am 22. Mai 2010, der FC Bayern stand erneut in einem Finale der UEFA Champions League, dieses mal gegen Inter Mailand. Auch dieses Endspiel ging aus Sicht der Bayern verloren, wenngleich weit weniger dramatisch als jenes, von dem hier bereits erzählt wurde. Mittlerweile auch schon wieder neun Jahre zuvor, durften die Bayern den Henkelpokal dann ja auch endlich in die Höhe stemmen und auch wenn in der Zwischenzeit auch dieser Triumph schon wieder langsam aber sicher verblasste, war die erneute Niederlage zwar natürlich nicht schön, aber mit dem Schmerz von 1999 nicht zu vergleichen. Ich schaute das Spiel unter anderem mit Andi Raba beim Wochinger im Biergarten. Nach dem Spiel bemerkte ich, dass sich unter den wie man sich vorstellen kann zahlreichen Gästen an einem anderen Tisch auch der Stärzei befand. Stärzei, der seit geraumer Zeit schon nicht mehr in Siegsdorf wohnte und mit dem ich auch seit Längerem nicht mehr allzu viel Zeit verbrachte, bat mich und die anderen zu sich an den Tisch und wir ließen dann auch, ohne erkennbare Verbitterung über die Niederlage meinerseits und ebenso ohne erkennbare Häme seinerseits den Abend bei mehreren Bieren ausklingen. Später an dem Abend fiel mir dann auch unser gemeinsames Erlebnis aus dem Mai 1999 ein und ich erzählte die Story am Tisch mit allen mir zur Verfügung stehenden Details und sich anbietenden Überdramatisierungen.
Stärzei konnte sich nicht erinnern...