Montag, Juli 21, 2008

Verloren im Third Place

Prolog:
Es ist Montag, 17:49 Uhr. In der Hosentasche nach meinem Haustürschlüssel kramend stapfe ich die letzten Stufen der Treppe hoch bis vor meine Wohnungstür, mache vor dem imaginären Fußabstreifer halt, führe den Schlüssel in das dafür vorgesehene Loch und schließe auf. Soweit Routine. Doch dieser Tag sollte etwas besonderes werden. Nach einem arbeitsreichen Wochenauftakt plane ich schon während der Busfahrt nach Hause, dass heute Zockerabend angesagt ist. Nachdem ich mein Abendbrot in Form einer Tiefkühlpizza zu mir genommen habe ist es soweit. Meine rüstige aber schmucke PS2 wartet auf Spielefutter. Noch während ich überlege, in welche virtuellen Welten ich mich wohl an diesem Abend begeben werde fällt mir auf, dass die rote Leuchtdiode an meiner PS2 unüblicherweise blinkt. Das muss ich mir doch einbilden denke ich. Ich blinzle ein paar mal und merke das das Blinken nicht aufhört, im Gegenteil, die Frequenz wird schneller und schneller. Vorsichtig nähere ich mich, meine gar aus der Konsole selbst ein leichtes vibrieren zu vernehmen, mein rechter Zeigefinger nähert sich dem Resetknopf. Aber als ich etwa auf 3 cm Entfernung heran komme, passiert es. Das MAGIG GATE öffnet sich. Mein ganzes Wohnzimmer ist in gleißend helles, weißes Licht gehüllt. Mir kommt es vor, als wären alle meine Sinne außer Kraft gesetzt und nur damit beschäftigt, das Licht in all seiner Schönheit wahrzunehmen. Plötzlich dreht sich alles um mich herum, ich kämpfe damit, nicht bewusstlos zu werden, doch das gelingt mir nicht lange. Das letzte was ich sehe ist die Digitaluhr meines Videorekorders. Sie zeigt 20:03 Uhr. Dann wird mir schwarz vor Augen

Die Villa
Ich schlage meine Lider auf. Benommen liege ich da auf dem Boden, einem fremden kalten Boden. Weniger kalt, aber steril, weiß, staubtrocken, matt, unwirklich. Nicht nur der Boden sieht so aus, auch die Decke, alle Wände, zumindest soweit mein Blick reicht. Ich stehe auf, die Luft ist rein, gut. Man sieht nicht weit, in allen Himmelsrichtungen steht ein dichter Nebel. Ich fühle mich wie in einem riesigen Gebäude oder Testgelände, bei dem ich die Wände nicht sehen kann. Ich entschließe mich, einfach geradeaus zu gehen. Neugierig harre ich der Dinge, die vor mir liegen.

Nach kurzer Wegstrecke lichtet sich das Dickicht aus nichts. Ich vernehme deutlich stimmen, die immer lauter werden. Vor mir erscheint ein Tor. Ich schreite hindurch.

Die seltsame sterile Umgebung hat sich urplötzlich verändert. Ich befinde mich nun auf einer Stehparty. Um mich unzählige Menschen. Keiner davon ist mir bekannt. Wie bin ich nur hierher gekommen? Was ist mit mir passiert. Ich wollte doch nur ein bisschen zocken am Feierabend. Als ich mich genauer umsehe, erkenne ich, dass ich in einer riesigen fürstlichen Villa gelandet bin. Ich stehe in einer gewaltigen Eingangshalle, zentral führt eine edle Marmotreppe in die oberen Stockwerke. Als ich mich umdrehe merke ich, dass die Tür aus der ich gekommen war, verschwunden ist. Wohin das Auge reicht sehe ich Grüppchen von Leuten, die sich angeregt miteinander unterhalten.

Die Ansprache:
Urplötzlich verstummt das Geplauder. Die Anwesenden erheben Ihre Blicke und schauen gespannt in den ersten Stock. Ich tue es Ihnen gleich. Von links kommen plötzlich ein halbes Dutzdend unverkennbarer Bodyguards, die sich allesamt wie ein Ei dem anderen gleichen. Wenige Augenblicke später erscheint unter tosendem Applaus der Gastgeber der illustren Zusammenkunft. Zuerst erkenne ich ihn nicht, doch dann wird es mir klar. Es ist: Ken Kutaragi!
Einige Zeit genießt er die ihm entgegenschwappende Begeisterung, dann ergreift er das Wort. Obwohl er zweifelsfrei Japanisch spricht, habe ich keine Mühe damit, ihn zu verstehen. Zunächst bedankt er sich, dass all seine Freunde den Einladungen gefolgt sind und so zahlreich erschienen sind. Er, der Vater der Playstation, ja der Gott des Videospiels wolle sich auf diese Weise für die gute Zusammenarbeit bedanken, indem er die Elite des Business auf seinen Landsitz eingeladen hat um sich untereinander auszutauschen und auch weiterhin den Erfolg von Sony zu garantieren. "Erhebet die Gläser!!!"
Die letzten Worte erhallen wie ein Schlachtruf durch das monströse Anwesen. Die Gäste applaudieren erneut frenetisch und gehen im Anschluss wieder ihren Gesprächen und dem Champagner-Genuss nach, der von seltsam aussehenden, schnäuzbärtigen Männern im blauen Klempneroutfit auf edlen Tabletts serviert wird.

Der Rundgang
Aus Mangel an Alternativen entschließe ich mich, mich hier unter den Gästen umzusehen, ob es vielleicht noch jemanden hierher verschlagen hat, der wie ich offenbar nicht recht weiß, wie er bloß um alles in der Welt an diesen Ort gelangt ist.
Rechts neben mir fällt mir ein Mann auf, der in einem lächerlichen Mudokon - Kostüm steckt. Er schiebt einen Rollstuhl vor sich her. Der Mann in dem Rollstuhl ist mir bekannt. Es ist Lorne Lanning, der traurig wirkt und stark gealtert ist. Ihm gegenüber steht Dave Perry, der untentwegt auf Lorne einredet. Ich lausche...
>"Lorne, das hättest du dir von Anfang an denken können, dass das nichts wird. Komm zurück zu uns. Wir brauchen dich"
>"Ach David. Ich hatte einmal eine Vision. Ich wollte der bedeutenste und erfolgreichste Spieledesigner aller Zeiten werden. Ich kann nicht verstehen, warum es nicht geklappt hat. Es ergibt einfach keinen Sinn. Jeder Mensch liebt doch Oddworld."
>"Du hättest eben nicht zu Bill gehen sollen. Aber sieh doch. Ken ist gütig, Ken ist groß. Er gibt jedem eine 2. Chance. Verkriech dich nicht in deine eigene Matrix. In jedem von uns steckt ein kleiner Erdwurm, der nach Weltgeltung strebt. Steh endlich auf und zeige der Welt, aus welchem Holz richtige Mudokons geschnitzt sind!"
>"Dave. Ich konnte wirklich nie verstehen, woher du dein großes Selbstbewusstsein nimmst. Lass mich nachdenken. Komm Abe, wir gehen. Das heißt, du gehst, ich fahre."
Gott, ist das armselig, denke ich und ziehe weiter und ahne nicht, welche Schrecken ich noch zu erleiden hatte an diesem Tag.
Ich ziehe weiter und erblicke einen dicklichen Mann, der einsam und verlassen da steht und mit seinem knielangen Eishockey-Trikot und seiner Baseballmütze eine jämmerliche Figur abgibt. Auch ihn erkenne ich wieder. Es ist David Dienstbier. Um seinen Hals hat er ein Schild geschnallt auf dem in großen Lettern auf seiner Brust "ÜBERNEHME JEDE ARBEIT" prangert. Als er sich umdreht sehe ich, dass auch auf seinem Rücken ein Schild angebracht ist. Dort steht "VERKAUFE SÄMTLICHE TUROK-RECHTE". Bevor er mich erblickt, entschliße ich mich, das Weite zu suchen.
Weit komme ich allerdings nicht, denn ich rutsche auf irgendetwas aus und knalle hart auf den Rücken. Einen Moment später hilft mir ein dunkelhaariger Mann wieder auf die Beine. Als ich auf den Boden schaue, um zu sehen, was mich zu Fall gebracht hat erkenne ich eine Vielzahl von kleinen grünen Spielzeug-Soldaten. Der Mann, der mir aufgeholfen hat ist Trip Hawkins. Er führt mich mit sanfter Gewalt an eine Reihe von Displays und drückt mir einen PS2-Pad in die Hand. Er erklärt mir, dass er sich entschlossen hat, seine Erfolgsserie nach einer gewissen Schaffenspause wieder fortzuführen. Ich solle sein neuestes Werk doch einmal Probespielen. Nach exakt 43 Minuten "Army Men Forever" weicht Trip dem Himmel sei Dank erstmals von meiner Seite und ich nutze die Gelegenheit zur Flucht. Ein Glück, dass dieser Höllen"trip"p ein Ende findet. Ich konnte förmlich fühlen, wie mein Hirn zu Sirup wurde.
Als ich mich endlich außer Reichweite wähne, wird urplötzlich das Licht gedimmt bis es auf einen Schlag stockdunkel ist. Das Gerede um mich herum verstummt, man hört nur ein paar mechanische Geräusche. Wenige Augenblicke später wird es langsam heller. Von oben wurde eine Riesenleinwand heruntergelassen, um mich herum wird von einer Weltpremiere geflüstert. Nachdem ein mir völlig unbekannter Mann mehrere Minuten von der Präsentation des wohl wichtigesten Videospiels in der Geschichte der Menschheit spricht, steigt auch bei mir die Spannung. Auch der bisher abseits stehende David Dienstbier hat sich ganz nach vorne gedrängt. Als das Licht dann wieder ausgeht herscht für einen Moment wieder Stille, doch als plötlich ein "Naughty Dog presents" - Schriftzug auf der Leinwand erscheint, nimmt der Jubel unter den Gästen ekstatische Ausmaße an, nicht wenige scheinen vor Begeisterung gar in Ohnmacht zu fallen. Als plötzlich mit einem lauten Knarzen das große Eichenportal sich öffnet und ein gutes Dutzend Männer in Beutelrattenkostüm und "Chrash Bandicoot Xtreme" - T-Shirts gardegleich hereintanzen beachte ich meine aufkeimende Übelkeit nicht weiter und ergreife die Flucht. Nicht mehr eine Sekunde länger halte ich es in diesem Irrenhaus aus...

Die Flucht
Wieder überkommt mich die Angst, wie ich hier nur reingeraten bin aber ich renne und stürze hinaus in die Abenddämmerung des Tages. Einige der Beutelratten haben offenbar die Verfolgung aufgenommen, doch ich drehe mich nicht um und laufe geradeaus weiter. Ich habe keinen Blick für den prunkvollen Garten mit seinen Wasserspeiern. Einer der schnäuzbärtigen Klempnerkellner steht angekettet am Grundstückstor, auf das ich mich eiligen Schrittes hinbewege. "Haltet ihn" schallt es aus mehreren Mündern von hinten, doch der Mann zwinkert mir zu und lotst mich durch das Tor und schließt es anschließend. Ich habe keine Zeit, mich umzublicken und renne einfach weiter, einen kleinen Pfad entlang der in einen Wald führt. Es ist ein Bergpfad, wie ich langsam erkenne. Es wird steiler und steiler und ich komme immer mehr außer Atem. Als mir meine Puste nach mehreren Minuten auszugehen droht werde ich langsamer und halte inne. Ich höre nichts mehr, meine Häscher scheinen die Verfolgung abgebrochen zu haben. Mangels Alternativen gehe ich einfach weiter. Langsam wird es dunkel. Ein Glück, das sich der Wald langsam lichtet. Zu meiner linken öffnet sich ein gähnender Abgrund. Es wird felsiger. Eine halbe Stunde später, als die Sonne schon längst hinter den Bergen und Hängen verschwunden ist erschrecke ich und gehe hinter einem Baum in Deckung. Etwa 20 Meter vor mir kauert ein junger Mann am Boden. Da er mir als ungefährlich erscheint nähere ich mich ihm. Als ich ihn fast erreicht habe höre ich, dass er schluchzt und zu Boden schaut. Er sitzt auf dem nassen Gras und hat seine Kapuze weit ins Gesicht gezogen. Obwohl er nicht aufschaut, scheint er mich bemerkt zu haben.
>"Was hättest du denn gemacht?" sagt er. "Ich konnte es einfach nicht mehr!"
>"Wovon zur Hölle sprichst du? Wer bist du? Hat es dich auch hierhin verschlagen? Hast du eine Ahnung, wie ich, wie wir hierher gekommen sind?"
Der Mann blickt mich mit Tränen in den Augen an. Ohne auf meine Fragen einzugehen, fängt er an
>"Ich habe diese Lügen so satt. Mein Job ist nichts weiter, als die Verpackungstexte auf EA-Spielen zu machen. Von wegen "noch nie dagewesen", von wegen "bestes Fußballspiel" von wegen "fantastisch". Es ist sei Jahren derselbe Mist, verflucht noch mal!!
Er drückt mir einen Zettel in die Hand auf dem steht "Entwurf für FIFA 2009" und ein längerer Werbetext.
Plötzlich richtet er sich auf, bedankt sich dafür, dass ich ihm zugehört habe, sieht mich für einen kurzen Moment an und springt ohne weitere Worte den felsigen Abgrund hinunter. Ich stürze vor an den Rand und kann es nicht glauben, ihn aufgrund der aufkeimenden Dunkelheit ohnehin nicht mehr sehen. Ich starre nur hinunter. Einen kurzen Moment später fühle ich, dass etwas nicht stimmt, dass ich gerade etwas gehört habe, dass ich nicht alleine bin. Bevor ich mich aber umdrehen kann stürze auch ich hinab in den Abgrund. Noch im Fall kann ich mich umdrehen und erkenne, dass mich eine der Beutelratten hinabgestoßen hat. Das breite Grinsen von Crash ist das letzte, was ich sehen kann, bevor...

Zurück...
ich meine Augen wieder öffne. Mir tut alles weh. Mein Rücken, mein Genick. Vor allem mein Kopf. An meinem Hinterkopf bemerke ich eine riesige Beule. Ich liege mitten auf dem Parkettboden und richte mich langsm auf. Der Videorekorder zeigt 23:44 Uhr. Bin ich wirklich ausgerutscht und gestürzt? War ich wirklich fast 4 Stunden ohnmächtig? Mit pochendem Schmerz im Kopf gehe ich schweren Schrittes in die Küche und werfe eine Aspirin ein. Ich bin gerädert, als ich letztlich im Bett liege. Aus meinen Zockplänen ist wohl nichts geworden, erörtere ich nüchtern die Situation. Was für ein irrer Traum denke ich, bevor ich schließlich einschlafe.

Epilog
3 Tage später habe ich das ganze längst wieder vergessen. Einzig eine kleine Beule begleitet mich noch auf meinen Wegen. Als ich im Mediamarkt meinen üblichen Abstecher durch die Spieleregale mache bleibt mein Blick an einer bestimmten Stelle hängen. Ich stutze, als ich "FIFA 2009" aus dem Spieleregal nehme und die Rückseite betrachte. Als ich in meine Hostentasche greife, finde ich einen Zettel...

Schlussanmerkung:
Wer dies liest und auf das Datum schaut, dem wird wohl auffallen, dass die Geschichte zeitlich gesehen eigentlich nicht zusammenpasst. Selbst als sie mir grob zum ersten mal durch den Kopf ging (Ende 2006) wären sowohl die darin vorkommenden Personen, als auch die PS2 an sich schon sehr outgedated gewesen. Nichtsdestotrotz habe ich mich entschlossen, es bei diesen "alten Geschichten" zu belassen. Zum Einen, weil mir zu aktuellen Themen nicht so viel erwähnenswertes einfällt und zum Anderen, weil ich mit Huber und Schoof über die angesprochenen Themen immer sehr viel zu lachen hatte.

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